Donnerstag, 28. August 2008

Vor der Party erst einmal "Vorglühen"

Vor der Party erst einmal "Vorglühen"

Exzessiver Alkoholkonsum bei Jugendlichen immer häufiger an der Tagesordnung

Vom 28.08.2008

RHEINGAU-TAUNUS Der Alkoholmissbrauch bei Jugendlichen nimmt immer schlimmere Formen an. Das Zentrum für Jugendberatung und Suchthilfe für den Kreis erlebt während der Kerbesaison einen regelrechten Ansturm besorgter Eltern, die dringend Rat suchen.


Von

Mathias Gubo

Jörg, fast 16 Jahre alt, kommt aus dem Rheingau und besucht mit seiner Clique eine örtliche Jugendveranstaltung. Wie immer haben sie wieder ihre alkoholischen Getränke selbst mitgebracht. Zum "Vorglühen", sagen sie. Doch dieses Mal ist alles anders als sonst. Die Jugendlichen fangen an zu trinken, haben Spaß, doch plötzlich muss sich Jörg heftig übergeben. So weit noch nichts Besonderes. Dass man mal zu viel trinkt kommt vor. Doch als Jörg anfängt, zu hyperventilieren, werden die anderen aufmerksam. Nichts ist mehr so wie sonst. Sie bekommen es mit der Angst zu tun, sprechen einen Erwachsenen an, der dann einen Krankenwagen ruft. Diagnose: Alkoholvergiftung. Ein schockierender Einzelfall? Bei weitem nicht, sagen die Fachleute des Zentrums für Jugendberatung und Suchthilfe für den Rheingau-Taunus-Kreis. Exzessiver Alkoholkonsum unter Jugendlichen ist mehr und mehr an der Tagesordnung, gilt als "cool".

Gegen den Trend

Die Deutschen trinken immer weniger Alkohol. Einer aktuellen Studie zufolge trinken mittlerweile neun von zehn Erwachsenen risikoarm oder gar keinen Alkohol, können also verantwortungsbewusst mit Alkohol umgehen. Doch entgegen dem allgemeinen Trend greifen Jugendliche und junge Erwachsene viel zu häufig zum Alkohol. Nicht zuletzt seit dem tragischen Tod eines 16-Jährigen, der ein Wetttrinken und anschließend sein Leben verlor, zeigt sich, dass viele junge Menschen die Folgen des Alkoholkonsums und vor allem des Rauschtrinkens offenbar stark unterschätzen oder ignorieren.

"Dieses Unterschätzen der Risiken resultiert hauptsächlich daraus, dass Jugendliche, anders als Erwachsene, sehr schnell sehr betrunken werden", erläutert Dieter Kaffei, der Leiter des Zentrums für Jugendberatung und Suchthilfe mit Sitz in Taunusstein, der größten Stadt des Kreises.

"Weniger Tabak- und Cannabiskonsum bei Jugendlichen, aber exzessiver Alkoholkonsum angestiegen", so heißt es in der Pressemeldung der Bundesregierung zum Drogen-und Suchtbericht vom 5. Mai 2008. Einen Trend, den die örtlichen Beratungsstellen nur bestätigen können. Auch die Leiterin der Suchtberatungsstelle in Oestrich-Winkel, Heidi Täubner-Berg, sowie Dieter Kaffei verzeichnen einen Anstieg im Bereich der Rat suchenden Eltern. Immer größer werde die Zahl besorgter Eltern, die sich über das sogenannte "Komasaufen" informieren, "insbesondere während der Fastnachts- und Kerbesaison hatten wir einen regelrechten Ansturm besorgter Eltern", erläutert Kaffei. Als besonders tragisch in Erinnerung geblieben ist ihm dabei der Fall einer jungen Frau, die im Anschluss an eine Fastnachtsfeier in einer fremden Wohnung erwachte und sich an nichts mehr erinnern konnte.

Alarmierend sei daran, dass, seit die Alkoholindustrie Frauen als Zielgruppe entdeckt habe, der Alkoholkonsum unter jungen Frauen dramatisch steige. Besonders die vielen verschiedenen Biermixgetränke zielten auf Frauen als Konsumenten ab und führten dazu, "dass die deutschen Frauen den Männern in dieser unrühmlichen Disziplin mittlerweile in nichts mehr nachstehen", so Kaffei bedauernd.

Aber nicht nur Mixgetränke motivieren zum Trinken. Seit die sogenannten Flatrate-Parties verboten wurden, sorge ein neuer Trend bei den Jugendlichen für Partystimmung und bei Eltern für schlaflose Nächte: "Bier-Börse" heißt die Geschäftsidee. Die Bier- oder auch Getränkebörse funktioniert nach dem Prinzip "Angebot und Nachfrage regulieren den Preis". Je größer die Nachfrage, desto höher der Preis. Die Preise werden wie bei der "richtigen Börse" auf einer Leinwand angezeigt, das sorgt dafür, das Jugendliche ein gerade wenig nachgefragtes Getränk zu niedrigsten Preisen kaufen können. Der Effekt sind Vorratskauf und natürlich entsprechend "gute Stimmung".

"Trinken bis der Arzt kommt", das ist für 19 500 Jugendliche und junge Erwachsene im Jahre 2006 zur Realität geworden. Laut den Angaben des Statistischen Bundesamts sind 2006 im Vergleich zu 1995 rund 100 Prozent mehr junge Menschen im Alter von zehn bis 20 Jahren wegen einer Alkoholvergiftung in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die meisten davon sind männlich und waren zum Zeitpunkt der Einlieferung zwischen 15 und 20 Jahre alt.

Pegel steigt wieder

Eine Zunahme des Alkoholkonsums unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen bescheinigen auch jüngste repräsentative Untersuchungen. Laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung steigt der Pro-Kopf-Verbrauch unter den Zwölf- bis 17-Jährigen seit 2005 wieder an. Zuvor hatte die Steuererhöhung auf spirituosenhaltige Alkopops ihre Wirkung gezeigt und zu einer Abnahme des Alkoholkonsums geführt. Doch seit die Alkoholindustrie verstärkt Bier- und Weinmixgetränke vermarktet, steigt der "Pegel" bei Jugendlichen wieder.

http://www.wiesbadener-kurier.de/region/objekt.php3?artikel_id=3410574

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